Kinder und Corona: Erfahrungen zwischen Stigma und Hoffnung

Ein Gespräch geführt von Siegfried Seeger (Freier Bildungsreferent)
mit Christianne Wickler (Unternehmerin und Vizepräsidentin der UP_FOUNDATION), Dr. Patrick Theisen (Pädiater und Präsident der Vereinigung der Kinderärzte in Luxemburg), Liz Kremer-Rauchs (Direktorin der UP_FOUNDATION) und René Schlechter (Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher)

 

„Die Angst hat die Menschen die Menschlichkeit vergessen lassen.“ Christianne Wickler

 

Was löst das bei den Kindern aus, wenn sie spüren, dass die Menschen, die ihnen nahe stehen und bisher Sicherheit und Geborgenheit gegeben haben, selber unsicher und ängstlich werden?

Schlechter: Am Anfang war der Diskurs, dass die Kinder die Träger der Gefahr seien. „Die Kinder sind selber nicht gefährdet, aber sie tragen das Virus in alle Richtungen.“ Das hätte als Botschaft so nicht transportiert werden dürfen.

Wickler: Für die Kinder fand ich das ganz schrecklich. Sie wurden ja fast in den Läden verboten. Wenn die Kunden fragten: „Dürfen die Kinder bei euch mit rein?“ – „Natürlich dürfen sie das!“ Das gefiel einigen Kunden nicht. Diese Kunden mussten gehen. Aber die Kinder durften bleiben. Da war ich sehr konsequent. Das tut man keinen Kindern an. Das sind keine Kriminellen. Es sind unsere zukünftigen Erwachsenen.

Schlechter: Wo die Kinder in einer Situation sind, in der die Eltern nicht wissen, wo das Leben hingeht, das kenne ich auch von Flüchtlingsfamilien. Da beobachte ich manchmal, dass die Kinder in eine Elternrolle fallen und die Familie nach außen vertreten, weil sie die Sprache sprechen. Wenn die Kinder länger in solchen Situationen leben, dann können sie nicht mehr Kind sein.

Dr. Theisen: Angst ist von sich aus nichts, was unnatürlich ist. Angst gehört zum Leben. Das ist auch nicht schlecht für die Kinder. Aber es waren nicht die Kinder, die primär ängstlich waren, sondern die Erwachsenen. Im Moment stellt sich auch die Frage, ob die Schule zu dieser Angst beiträgt. Die Kinder werden nach Hause geschickt, wenn sie nur einmal niesen oder husten.

 

Und dann kamen wir in den Lockdown mit Fernunterricht, Homeoffice, neuen Familienkonstellationen und Alltagsrhythmen. Wie haben die Kinder diese Zeit erlebt?

Dr. Theisen: Ich möchte dazu erstmal etwas Positives sagen, was die kleinen Kinder anbelangt. Sehr viele Eltern kamen in die Praxis und haben gesagt: „Wie schön, wir haben unsere Kinder viel besser kennengelernt. Wir haben wieder mit unseren Kindern den Tag verbracht, zusammen gegessen und gespielt.“ Viele Eltern kannten ihre Kinder gar nicht mehr richtig, weil sie den ganzen Tag arbeiten, die Kinder morgens absetzen und abends wieder abholen. Ich glaube, da entwickelt sich ein Bewusstsein, dass das auch etwas Positives haben kann, wenn man mehr mit den Kindern zusammen ist und den Alltag mit den Kindern selbst planen und organisieren muss.

Schlechter: Ich kann das bestätigen. Ich hatte ein Treffen mit Pflegefamilien, die relativ junge Kinder hatten. Die haben mir auch erzählt: „Wir haben die Zeit mit dem Kind so genossen. Es gab keine Professionellen, die uns reinfunkten. Es gab keine leiblichen Familien.“ Die haben das auch erstmal sehr positiv erlebt. Wobei dann auch eine Pflegemutter dabei war, die einen Dreizehnjährigen hatte, und die gesagt hat: „Lockdown war Horror!“

Wickler: Es gibt natürlich auch Eltern, die trotz des Lockdown gearbeitet haben oder im Homeoffice waren. Das war für die Kinder problematisch, denn sie durften ja nicht zu Oma und Opa obwohl diese ja meist noch relativ jung sind. Die Kinder wurden hin- und hergeschoben. Da war nicht genug Transparenz und Gehör für die Kinder da.

Dr. Theisen: Und es gibt den Trend, dass die soziale Schere immer weiter auseinandergeht. Weil die sozial Schwachen wirklich die Leidtragenden in dieser Krise sind. Es gibt viele Eltern, die können ihre Kinder schulisch nicht unterstützen. Deshalb ist es wichtig, dass die Kinder in der Schule unterrichtet werden. Sonst nimmt man ihnen viele Chancen für’s Leben.

 

Welche Rechte der Kinder wurden im Lockdown beschnitten?

Schlechter: Das Recht auf Spiel und Freizeit. Und das Recht auf Bildung. Durch die Schulen wurde relativ schnell versucht neue Lösungen zu finden. Aber die Lösungen waren ungerecht verteilt. Es gab Familien, die kamen gut damit klar. Aber in anderen Familien mussten sich die Kinder ein Smartphone zu viert teilen, um bei den Kursen mitmachen zu können. Und man erlebt den Lockdown natürlich anders in einem großen Garten mit Trampolin als in einer 60qm-Wohnung mit fünf Personen. Und ganz fürchterlich fand ich es in den Flüchtlingsheimen, wo die Familien in der Regel in einem Zimmer zusammenleben und nicht raus können.

 

„Ein Lockdown ist gegen alle normalen Bedürfnisse von Kindern." René Schlechter

 

Vermutlich erzeugt Corona ein gesellschaftliches Trauma, wenn wir Trauma verstehen als ein plötzlich eintretendes Ereignis, das nicht vorhersehbar und nicht alleine zu bewältigen ist. Welche Langzeitfolgen vermuten Sie für die Kinder und Jugendliche, die in einer traumatisierten Gesellschaft aufwachsen?

Schlechter: Normalerweise ist ein Trauma eine einmalige Katastrophe, die über einen hereinbricht. Aber hier ist das etwas Schleichendes, wo man anfängt, damit zu leben, sich dran zu gewöhnen. Mir ist irgendwann aufgefallen, dass meine Tochter aus Angst keinen Bus und keinen Zug mehr nimmt. Das sind kleine Anpassungen, die uns schädigen. Wir sind inzwischen innerlich müde. Weil das etwas ist, was über die Zeit hinweg Energie abzieht.

Dr. Theisen: Und das große Problem ist, dass niemand so recht weiß, wo’s hingeht und wie lange es noch dauern wird. Wenn eine Sache begrenzt ist, dann ist das viel einfacher.

Wickler: Diese Perspektivlosigkeit bringt sehr viel Traurigkeit und nimmt Energie. Man ist fast schon beschämt, wenn man fröhlich ist. Und dass dann noch Angst geschürt wird, anstatt zu sagen: „Wir schaffen das, wir kommen da durch.“ Natürlich haben die Leute jetzt Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Aber als Luxemburger Unternehmen weiß ich, dass wir es irgendwie schaffen werden. Und wenn wir „auf die Schnauze“ fallen, dann ist das nicht schlimm, dann machen wir was anderes. Es muss den Menschen die Angst genommen werden, dass sie jetzt alle arm werden und den Kindern keine Perspektive mehr geben können. Das ist die Schere, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychologisch und sozial weit auseinander geht für die Kinder.

 

Also fordert uns Corona nicht nur medizinisch und sozial, sondern vor allem auch mental?

Dr. Theisen: Es wird zu sehr auf das Medizinische geschaut. Es gibt bei den Kindern aber auch die pädagogische, die soziale, die kognitive Seite. Das wird alles vergessen.

 

„Nach dem Lockdown wurden Schulen, Restaurants, Cafés geöffnet, aber die Spielplätze blieben geschlossen. Ich fand das fürchterlich gegenüber den Kindern." Dr. Patrick Theisen

Diese Stehaufmännchen-Mentalität von Unternehmern ist ja etwas Hoffnungsvolles: Daran zu glauben, ich kann hinfallen, aber ich kann auch wieder aufstehen und weitergehen. So haben wir als Kinder laufen gelernt.

Dr. Theisen: Ein Kind, das hinfällt, steht spontan auf. Aber wenn die Mutter oder der Vater sofort gelaufen kommt, dann steht das Kind nicht auf, dann beginnt es zu schreien. Wenn die Umgebung die richtige ist, dann steht man wieder auf.

Wickler: Ich sag’s auch zu den Politikern: „Lasst uns einfach hinfallen und gemeinsam in einer besseren Welt aufstehen! Hört auf mit diesem ganzen Drumherumgerede.“

 

Wie hat die UP_FOUNDATION im Lockdown reagiert?

Kremer: Wir waren vor Corona in Esch sehr gut unterwegs, hatten viele Aktivitäten für die Escher Kinder aus den Maisons relais auf die Beine gestellt. Und von heute auf morgen wurden 100 Ateliers abgesagt. Das war schlimm für unsere vielen Partner, die Kinder und die Maisons relais. Also haben wir gesagt: „Wenn die Kinder nicht zu uns kommen, dann gehen wir zu den Kindern.“ Wir haben einen Blog eingerichtet und unsere Partner eingeladen, jeden Tag einen Post zu machen. So kam jeden Tag ein Impuls eines anderen Partners an die Kinder und ihre Familien. Und so entstand eine Gemeinschaft, in der wir uns gegenseitig unterstützten.

"Im Lockdown haben wir mit Bildungspartnern einen Blog eingerichtet, um den Kindern und Familien zu helfen, gemeinsam die Verunsicherung besser auszuhalten." Liz Kremer

 

Es gibt Stimmen, die bereits von einer „verlorenen Generation“ sprechen, die verängstigt und mit weniger Bildungschancen aufwächst. Könnte man aber nicht auch umgekehrt sagen, dass das die erste Generation ist mit Pandemie-Kompetenz? Was lernen die Kinder und Jugendliche heute im Umgang mit dieser Gefahr?

Schlechter: Ich sehe das auch wirklich als Gefahr: „Ach, du hast dein Abi 2020 gemacht? Das ist wohl nicht viel wert?!“ Natürlich gibt es da auch Defizite. Das sind Menschen, die in einer wichtigen Zeit ihres Lebens nicht so leben konnten, wie sie es sich das eigentlich vorstellten. Da muss man aufpassen, dass nicht ein Diskurs entsteht, der diese Generation stigmatisiert und vielleicht auch diskriminiert.

 

"COVID-Kids ist ja schon ein feststehender Begriff, mit dem eine ganze Generation stigmatisiert wird." René Schlechter

 

Dr. Theisen: Die Kinder lernen mit einer Gefahr umzugehen. Dass man nicht einfach in eine Gefahr reinreiten kann, sondern auch Maßnahmen nehmen muss und sich überlegt, wie man diese Gefahr angehen kann.

Wickler: Ich finde, das ist jetzt trotzdem sehr lokal. Denn was machen wir mit den Kindern, die schon immer und auch in Zukunft an Hunger leiden? Ist ein Kind, das in Afrika auf die Welt kommt, weniger Wert als unsere? Wo ist der Respekt gegenüber anderen Lebewesen auf der Welt?

 

Nochmals zurück zum Stehaufmännchen des Unternehmerischen. Frau Wickler, Sie sind Luxemburger Unternehmerin. Gibt es rückblickend in ihrer Kindheit oder Jugend prägende Erfahrungen, von denen Sie aus heutiger Sicht sagen würden, dass sie das Unternehmerische in Ihnen geweckt haben?

Wickler: Ich komme aus einer Unternehmerfamilie. Mein Vater hat mit einer Schubkarre angefangen und ich habe immer das Positive daran gesehen, denn wir konnten uns immer auch um andere Leute kümmern. Und immer, wenn wir feststellten, das geht nicht, dann machten wir halt etwas anderes. Dieses spontane Kurvennehmen, die Selbständigkeit, dieses Freiheitsgefühl, das finde ich beim Unternehmertum das Schönste. Deshalb müssen wir wieder viel mehr auf Autonomie hinarbeiten und gegen diese Hoffnungslosigkeit ankämpfen.

 

"Wir gehören zu den ‚Happy Few‘ auf dieser Welt. Wir werden das schaffen!" Christianne Wickler

 

Welche Erfahrungen nutzt die Stiftung von solchen Unternehmer*innen, damit die Kinder und Jugendliche mit ihrem Leben „etwas unternehmen“ lernen?

Kremer: Wir sind auch aufgestanden. Wir haben einen alten Bus fahrtüchtig gemacht, ihn TOTO genannt und sind zu den Kindern gefahren. Quer durch‘s Land, in die einzelnen Städte auf die Hauptplätze. Denn uns war wichtig: Es sollten die Hauptplätze für die Kinder sein. Und dieser Bus wurde von Stadt zu Stadt immer farbiger. Aus dem alten grauen Peugeot-Bus wurde ein neuer bunter Bus, der Hoffnung verbreitet. Mit den Kindern und für die Kinder. Das ist Partizipation!

 

"Es ist auch das Unternehmerische, was wir in der Bildung brauchen: Aufstehen, die Hoffnung nicht verlieren und das Positive sehen." Liz Kremer

 

Von der Politik hören wir immer wieder, dass in der Krise auch eine Chance liegt. Wo sehen Sie für die luxemburgische Gesellschaft die Chancen der jetzigen Corona-Pandemie?

Wickler: Dass man als Zwerg schneller aufsteht als ein Riese. Wir sind klein und wendig und können uns sehr schnell anpassen. Und ich sehe das als große Chance, dass wir als Vorbild dienen. Wir sind dafür sehr gut aufgestellt, denn wir haben diese Diversität mit ganz unterschiedlichen Kulturen, die friedlich miteinander leben. Das kann doch für die Welt – oder zumindest für Europa – ein Beispiel werden.

 

"Wir müssen lernen, mit dieser Krise zu leben. Das Leben muss weitergehen." Dr. Patrick Theisen

 

Kremer: Resilienz ist auch wichtig: Das Lernen von Widerstandskräften damit wir mit COVID leben lernen. Man muss das Positive und die Chancen sehen. Und nicht nur das Negative und das, was man jetzt nicht mehr darf.

Schlechter: Unsere Kinder und Jugendlichen leben im Moment in einer sehr speziellen Welt, aber wir ja auch. Es ist das erste Mal in meinem Leben, wo eine globale Gefährdung so unmittelbar in mein Leben reinfunkt. Und das ist auch das, was unsere Kinder und Jugendlichen hierbei lernen: Dass eine globale Geschichte einen ganz konkreten Impakt auf meinen Alltag haben kann.

Dr. Theisen: Bildung ist unheimlich wichtig und deshalb finde ich das Projekt TOTO sehr gut. Es wird im Moment zu viel von Schule geredet. Man denkt dabei nicht an die Bildung außerhalb der Schule. Aber die ist genauso wichtig.

 

Mal angenommen, Sie hätten einen Tag die Gelegenheit, mit TOTO durch’s Land zu reisen. Wen aus der Luxemburger Gesellschaft würden Sie als Gast mitnehmen und warum?

Dr. Theisen: Den Unterrichtsminister. Weil Bildung nicht nur Schule bedeutet, sondern auch außerhalb der Schule stattfindet. Und dass das genauso wichtig ist, wie die Schule selbst.

Wickler: Den Arbeitsminister. Damit er den Kindern auch das Positive der Arbeit vermittelt, in der jeder eine Chance hat, und nicht mit dieser gewerkschaftlichen Kriegsführung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur das Negative vermittelt. Denn wir sitzen alle in einem Boot. Und in einem TOTO.

Kremer: Wir haben uns sowieso schon entschlossen, dass wir die Bildungskünstler und die jungen Mitarbeitenden der Stiftung mitnehmen. Für uns ist das sehr wichtig, um das Positive aus den Leuten herauszukitzeln, um das Unbeschwerte, das Künstlerische, das Leben wieder zu feiern. Und das hat bisher auch gewirkt.

Schlechter: Einen Richter vom Verwaltungsgericht. Ich habe so viele Urteile, wo Familien der Aufenthalt in Luxemburg verboten wird. Und wo die Kinder, die gut auf dem Bildungsweg unterwegs sind, durch so eine Entscheidung einen katastrophalen Impakt auf ihr Leben erleben und eigentlich alles verlieren. Ich finde das immer sehr schwer auszuhalten, wie wir mit unseren administrativen Regeln über das Schicksal von Kindern hinweggehen.

 

Ich wünsche allen eine gute Fahrt!

©UP_FOUNDATION