Kinder und Corona: Zwischen medialer Überstimulierung und Lethargie
Ein Gespräch geführt von Liz Kremer mit Prof. Dr. Manfred Spitzer, Neurowissenschaftler und Psychiater
Liz Kremer: Was brauchen Kinder und Jugendliche in dieser Zeit?
Manfred Spitzer: Ich denke mir, Sie brauchen vor allem andere Kinder und Jugendliche und Kontakt mit denen. Und das ist auch das, was im Lockdown das größte Problem war. Kinder haben ja gesagt: „Wir wollen wieder in die Schule gehen, damit wir vor allem unsere Freunde wiedertreffen“. Das ist ja das Wichtige an der Schule. Da wird natürlich auch noch ein bisschen was gelernt. Aber man hat eben vor allem Kontakt mit Anderen und macht eben auch gemeinsam Dinge. Diese Gemeinsamkeit, die hat Kindern eben gefehlt. Und Kinder brauchen eben auch die Interaktion mit anderen Kindern für ihre normale Entwicklung. Ja, man kann den direkten Kontakt durch Medien ersetzen, aber es ist viel langweiliger und anstrengender.
„Wenn es nun Gutes hat, dann, dass diese Pandemie uns klargemacht hat, was wirklich wichtig ist und was vielleicht doch nicht so wichtig ist und was sich vielleicht auch ändern und besser werden könnte.“ Prof. Dr. Manfred Spitzer
Liz Kremer: Was könnte sich denn ändern?
Manfred Spitzer: Ich glaube, die Einsicht könnte sich durchsetzen, dass digitale Medien wichtig für viele Aspekte unseres Lebens sind. Aber dass nicht alles notwendigerweise besser wird, wenn man das mit Bildschirm erledigt, sondern dass gerade das Miteinander unter zu viel digitalen Medien leiden kann. Ich bin nicht der Hinterwäldler, der wieder zurück in die Steinzeit will. Nein, die Technik ist da damit wir sie gebrauchen. Aber ist in Bildschirm wirklich die beste Freizeitgestaltung für uns Menschen? Da würde ich sagen eher nicht. Ich will es mal an einem Beispiel illustrieren. Es gibt jetzt die ersten Daten aus Deutschland, die untersuchen, was Corona mit den Menschen gemacht hat. Schon im Herbst 2019 hatte man über 1.000 Leute befragt, und zwar Kinder und Jugendliche von 10 bis 17 Jahre und jeweils einen Elternteil. Dieselben Personen hat man dann in der zweiten Aprilhälfte 2020 nochmal befragt. Das war in Deutschland so der Höhepunkt der Pandemie und des Lockdowns. Dabei kam raus, dass die Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen nochmal um mehr als zwei Stunden täglich zugenommen hat, von 5 Stunden auf 7 Stunden. Wenn man dann gefragt hat warum, dann haben 90 Prozent der Kinder gesagt: „aus Langeweile“.
Liz Kremer: Aber ist Langeweile nicht auch manchmal gut?
Manfred Spitzer: Danke, dass Sie das sagen. Langeweile ist eigentlich ein Signal für uns. So wie Schmerzen ja dafür da sind, um uns zu zeigen: „Da stimmt was nicht, mach was anderes.“ Langeweile hat genau diese Funktion auch, aber im Hinblick auf unser Miteinander und unsere Art, mit der Welt umzugehen. Und deswegen ist die richtige Reaktion auf Langeweile kreativ zu werden und sich zu überlegen: „Ja, was kann ich denn sonst machen?“ Die falsche Reaktion auf Langeweile ist, Zeit totzuschlagen. Aber genau das geschieht. Und warum? Weil es das Geschäftsmodell der reichsten Firmen der Welt ist. Apple, Google, Amazon, Microsoft, Facebook leben davon, Zeit zu monetarisieren. Die machen aus Lebenszeit Geld. Und wem nehmen sie die Lebenszeit ab? Vor allem Kindern und Jugendlichen. Weil die haben ja die meiste Freizeit. Und diese Zeit fehlt dann aber natürlich für Anderes und vor allem für kreative Überlegungen. Immer weniger Schüler wissen, was sie eigentlich aus ihrem Leben machen sollen, weil sie die Fähigkeit, miteinander kreativ zu sein und was Neues auch wirklich zu erleben, abtrainiert bekommen haben. Und das müssen wir ändern, wenn wir nicht wollen, dass unsere Gesellschaft kaputt geht und die Gesundheit und die Bildung der nächsten Generation den Bach runtergeht.
„Dass wir heute zulassen, dass unsere Kinder und Jugendliche mehrere Stunden pro Tag vor einem Bildschirm verbringen, ist unser großer kultureller Fehler.“ Prof. Dr. Manfred Spitzer
Liz Kremer: Was ist für Sie Bildung?
Manfred Spitzer: Bildung ist ganz schlichtweg das, was im Gehirn passiert, wenn es lernt. Und das hängt alles von der Vorbildung ab. Deswegen müssen wir darauf achten, dass unsere Kinder so viel wie möglich Vorwissen über die Welt lernen. Es geht nicht um Faktenwissen, sondern darum, verstanden zu haben, wie alles zusammenhängt. Und wenn uns das gelingt, dann können die Kinder mit allem umgehen.
Liz Kremer: Kann die Schule das ändern?
Manfred Spitzer: Der Schule wird sehr viel zugemutet, die kann nicht alles ändern. Ich denke mir, die Schule kann logisches Denken beibringen. Und sie kann ein gewisses Vorwissen und eine gewisse Vorbildung schaffen. Wenn sich dahingehend in der Schule was ändert, dann ist es gut. Wichtig ist, Bildung nicht zu eng zu denken und zu sagen: „Wir müssen das und das abhaken.“ Bildung ist wirklich mehr als das. Man muss die Dinge immer auch im Zusammenhang mit der eigenen Lebenserfahrung lernen.
Liz Kremer: Welchen Platz können kreative Fächer in der Schule oder im Leben einnehmen?
Manfred Spitzer: Man hat ja Untersuchungen dazu gemacht, wie sich Vier bis Zwölfjährige am besten weiterentwickeln. Dazu wurde im Jahr 2011 ein Science Paper publiziert. Da kam heraus: Die wichtigsten Schulfächer sind Sport, Kunst, Musik und Theaterspielen. Die fallen aber gerade immer aus. Da könnte man ansetzen. Ja, Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften sind wichtig. Aber wenn die Kinder keinen Sport mehr machen, dann ist das ganz schlecht für ihr Hirn. Musik ist unglaublich gut für die Entwicklung einer ganzen Reihe von Fähigkeiten. Das soziale Miteinander lernt man, wenn man Theater spielt. Wenn ich Shakespeare durchhabe, dann weiß ich, wie alle möglichen Emotionen funktionieren. Aber wenn sich die Kinder nur gegenseitig Emojis zuschicken, dann werden sie übermannt von einer Emotion, weil sie sie nie versprachlicht und nie ausgelebt haben. Schon keine Pandabären und kleine Braunbären spielen miteinander und probieren dauernd aus. Dieses Ausprobieren dürfen wir unseren Kindern nicht nehmen. Und dieses Ausprobieren, das geht nicht per Bildschirm. Wenn man über ein iPad wischt, lernt man gar nix. Weil die symbolische Repräsentation der ganzen Figuren und der bunten Bilder, die sind noch gar nicht da. Man muss das mit den Händen, mit dem ganzen Körper machen.
„Digitale Medien sind für kleine Kinder einfach nur Gift, weil sie ihnen die Möglichkeit nehmen, neue Erfahrungen zu machen.“ Prof. Dr. Manfred Spitzer
Liz Kremer: Wie kann man gegen diese negativen Tendenzen ankämpfen?
Manfred Spitzer: In der Krise hatten wir zwar keine Ausgangssperren, aber wir sollten nicht rausgehen. Und vielleicht haben wir ja da gemerkt, wie gut uns Rausgehen eigentlich tut. Man merkt ja immer, dass einem was fehlt, wenn es einem fehlt. Wenn die Luft fehlt, merken wir, ohne die kommen wir nicht aus. Sonst merken wir gar nicht, dass die Luft überhaupt da ist. Mit dem Naturerleben ist es ähnlich. Auch dazu gibt es Studien. Man hat mal untersucht, dass der Aktionsradius von Kindern in England auf 10 Prozent geschrumpft ist. Kinder sind heute vor allem drin. Eltern freuen sich; da können sie nicht überfahren werden, nicht entführt werden, von keinem Baum fallen. Die Kinder sind froh, weil sie für suchtartiges Verhalten angefixt werden, was sie dann mit irgendwelchen Spielen oder mit Social Media an den Tag legen. Viele Kinder sind heute schon süchtig nach diesen Dingen. Das hat die Corona Pandemie noch verschlimmert, weil die Kinder durften und sollten ja nicht rausgehen. Und dann haben die Kinder tatsächlich nichts anderes gemacht als ihre Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, haben zugenommen, sind unglücklicher geworden. Viele Kinder leiden heute unter dem Naturmangelsyndrom oder „nature-deficit disorder“. Wenn man sie dann in die Natur bringt, dann geht’s ihnen plötzlich wieder besser; dann ist die Aufmerksamkeitsstörung weg, dann sind sie fokussierter und auch glücklicher. Das wissen wir eigentlich, aber wir nehmen es im Moment nicht ernst. Wir sollten das aber ernster nehmen. Und wenn Corona uns daran ein bisschen erinnert hat, dann war‘s gut.
©UP_FOUNDATION